Zeitbäder: Schon der Titel intrigiert. Wer badet da? Der Mensch? Die Zeit? Und wer in was? Der Mensch in der Zeit? Und die Zeit? In sich selber oder letztlich doch im Menschen? Dann aber wie? Nimmt sich die Zeit zum Baden denn überhaupt jemals die Zeit? Und wo bleibt das Wasser? Wirkt die Zeit schon reinigend an sich? Vermag sie mit Zusätzen zu schäumen? Regt sie in ihr suhlenden Menschen zum Singen an? Und wie steht es mit dem Archimedischen Prinzip? Wie viel Auftrieb verleiht die Zeit? Lässt sie Plastikentchen an ihrer Oberfläche schwimmen? Baden auf Zeit: Wer zieht wem letztendlich dann den Stöpsel? Die Zeit dem Menschen? Oder umgekehrt? Und wo fliesst die Zeit anschliessend hin? Denn dass alles fliesst, wissen wir spätestens seit Heraklit: «Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht…» Und wo wir Menschen nach dem letzten Bad hinfliessen, wirft eine ganze Reihe weiterer Fragen auf. Gamelle ist ein «fin Provocateur». Eine Skulpturengruppe genügt, um uns ein ganzes Universum von Gedankengängen zu eröffnen. Eine fliessende Skulpturengruppe notabene…
Badewannen haben normalerweise kurze Beine. Gamelle macht sie lang, stellt die Wannen und folgedessen die Zeit auf Stelzen. Portionenweise, zu je fünf Jahren, schön in Reih. «Ein jeder badet gern in seiner persönlichen Geschichte», meint er. Gamelles Geschichte füllt mittlerweile neun Zeitbäder. Und es heisst, er plantsche mitunter sehr gerne drin. So lädt Gamelle denn auch alle Kunstinteressierten dazu ein, die meist in Hektik durchlebte Zeit nochmals in aller Ruhe auszubaden. Nichts einfacher als das: Man lasse je 140 Liter seiner eigenen Geschichte (so viel umfasst ein Vollbad) in die Wannen zurückfliessen und alles in Gedanken konzentriert in Revue vorüberziehen. Die tonisierende Wirkung wird garantiert nicht ausbleiben. Denn zieht man am Schluss den Stöpsel, rinnt alles Belastende flugs von dannen. Genau wie die Zeit (von Gamelle mit Sand visualisiert). Und zurück bleibt am Ende lediglich das Essentielle. Darauf lässt sich bauen… So darf man denn gespannt sein auf die nächstfolgende Wanne voller persönlicher Geschichte. Bei Gamelle (geboren 1966) in vier Jahren…
His Matschers Voice
Hans-Rudolf Matscher
Die Erfindung der Hausbadewanne ist den Bewohnern des antiken griechischen Sybaris zuzuschrei-ben. Einzug in die Kunst fand sie mit dem Maler Jacques Louis David, der anno 1793 Jean-Paul Marat,
den ermordeten Helden der franzö-sischen Revolution, darin verewigte. Der Pop-Art
Künstler Tom Wessel-mann präsentierte 1963 in einer grossen
Assemblage «Bathtub
No. 3».
Joseph Beuys füllte 1973 eine Badewanne mit Heftpflastern und Mull.
Und mit Gamelle erhält die Badewanne nun eine vierte Dimension – die Zeit.